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Der Zirkel der Literaturliebhaber
Amir Hassan Cheheltan

mohit.art publiziert hier Auszüge aus der Erstveröffentlichung des Romans in der deutschen Übersetzung, erschienen 2020 bei C.H. Beck (München). ISBN 978-3-406-75090-8, Hardcover, 252 Seiten, 23,00 €. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Buchtitel, Amir Hassan Cheheltan, Der Zirkel der Literaturliebhaber (München: C.H. Beck, 2020). Gestaltung geviert.com, Andrea Hollerieth.

Das Zimmer

[Seite 10]

[…] Sie waren acht an der Zahl, zehn, wenn man meine Eltern mitzählte. Mich, der später regelmäßig an der Runde teilnahm, hinzugerechnet, waren wir insgesamt zu elft. Golschan und Mokhtar hatten sich bereits mit einigen Büchern einen Namen gemacht und galten, was Publikationen im Bereich Literatur und Kultur anging, als feste Größen. Kuscha war Dozent für Literatur, wollte aber höher hinaus. Er schrieb Gedichte, Theaterstücke, Erzählungen und tausend andere Dinge, ohne dass man ihn wirklich ernst nahm. Außer meinem Vater, Aschrafi und Foghahi, die ebenfalls Literatur unterrichteten, hatten die anderen, nämlich die blonde Witwe, Monsef und Hatam, zwar nicht beruflich mit Literatur zu tun, waren ihr aber, wie sie es ausdrückten, durch den unvergleichlichen Genuss verbunden, den sie ihnen verschaffte.

Mein Vater, als Gastgeber, hatte sich gewisse Privilegien ausbedungen. Dazu zählte das Recht, Texte laut vorzutragen, sofern er nicht erklärte, von seinem Recht einmal keinen Gebrauch machen und jemand anderem die Aufgabe übertragen zu wollen. […]

[Seiten 11-12]

Der Donnerstagskreis saß immer mehrere Stunden lang zusammen. Nach getaner Arbeit machten die einen sich auf den Heimweg, die anderen blieben noch. Für sie hatte man kurz zuvor in einer Ecke des Raums einen kleinen Tisch gedeckt, an dem nun fröhlich getafelt wurde. Man trank besten Wodka, aus der Herstellung eines Armeniers und in Kristallgläschen gereicht, auf die Gesundheit der Anwesenden und nahm sich, sobald die Atmosphäre vertrauter wurde, unterschiedlichster Themen an, von Politik bis zu Witzen. Die gab man mit plötzlich gesenkter Stimme zum Besten, wobei der Erzähler sich zu den Zuhörern beugte, kurz darauf für schallendes Gelächter sorgte und nicht einmal den dreiarmigen Lüster an der Zimmerdecke unbewegt bleiben ließ. Letztendlich aber fand man immer zur Literatur zurück. Sie stand in diesem Zimmer am Anfang und am Ende jedes Gedankenaustauschs. […]

Meine Entdeckung der Freude an der Literatur

[Seite 123]

[…] Wenn diese Literatur – so, wie ich es andere später oft habe sagen hören, wobei ich mich deren Überzeugung anschloss – Wesen und Widerspiegelung einer großartigen Kultur ist, wie passen dann solche Themen hinein und wie lassen die sich mit den offiziell herrschenden Moralvorstellungen vereinbaren?

Als ich in die Pubertät kam und mein Vater erkannte, dass es mir tatsächlich ernst war mit der Literatur, wollte er sie mir näherbringen, aber auch teilweise vorenthalten. Ihm war damals nicht klar, dass gerade das Verborgene mich besonders interessierte, der Reiz des normalerweise Ungesagten. Diese Werke sind ein unerschöpflicher Quell zu ergründender Lebensgeheimnisse. […]

[Seite 128]

Ich fragte mich, warum sich in unseren mit Auszügen aus klassischen persischen Werken übervollen Schulbüchern nicht ein Hinweis auf diese Seite der Werke fand. Auf ihre witzige, farbenfrohe, abwechslungsreiche Seite. Warum man uns ausschließlich ihr strenges, düsteres, ermüdendes Gesicht zeigte und jungen Menschen meiner Generation so den Zugang zu dieser Literatur verwehrte. Wenn ich meinen Altersgenossen damals von meinen spannenden literarischen Begegnungen berichtete, starrten die mich oft entgeistert an, konnten kaum fassen, dass ich an diesen Büchern großen Gefallen fand. Früher war das vermutlich ganz anders. Meine Vorfahren wurden in der Schule mutmaßlich mit allen Facetten dieser Literatur vertraut gemacht, weshalb sie sie auf Schritt und Tritt, in jeder Lebenslage und bis ans Ende ihrer Tage begleitet hat. […]

Saadi

[Seiten 141-143]

[…] Der Krieg gegen den Irak begann knapp zwei Jahre nach der Gründung der Islamischen Republik. Ein Krieg, von dem alle von der ersten Minute an dachten, er werde bereits nach ein, zwei Monaten vorbei sein, währte acht Jahre lang. […] Während nachts explosionsbereite Granaten durch meine Albträume heulten, suchte ich tagsüber Schutz in meinen Büchern.

Dass ich mich von unserer Donnerstagsrunde entfernt, der Literatur quasi den Rücken gekehrt hatte, kam fast der Leugnung meiner Herkunft gleich. Weil ich wusste, dass ich diesen Zustand auf Dauer nicht schadlos überstehen würde, packte ich vor jeder Rückkehr an meinen Einsatzort am Persischen
Golf – anders als bei Soldaten am Ende jedes Fronturlaubs üblich – statt möglichst vieler Leckereien von Mama möglichst viele Bücher in meinen Rucksack. Wenn die Philosophie Sokrates das Sterben lehrte, so lehrte die persische Literatur mich leben.

Offiziell sind Bücher in meinem Land seit jeher unerwünscht. Wer Bücher bei sich hatte, gab damit, nach offizieller Lesart, zu erkennen, dass er fand, etwas sei faul im Staate. Und wer Bücher besaß oder sich auch nur als Bücherfreund erwies, machte sich verdächtig, vor allem, wenn gesellschaftskundliche Werke oder Romane im Spiel waren. Ich aber hatte immer Bücher aus uralten Zeiten dabei, allgemein bekannte Werke, fern jeden Literaturgeschmacks junger Leute, vermeintlich unpolitisch. Entsprechend waren die Bücher und ich über jeden Verdacht erhaben. In meinem Rucksack begleitete mich auf Schritt und Tritt Saadi in Gesamtausgabe. Dazu Rumis Masnavi, Auszüge aus Ferdowsis Schah-Nameh und natürlich eine kleine Auswahl der Verse des großen Hafis, Werke aus den Federn einzigartiger Dichter, der Großen der klassischen Literatur Irans. Damals war mir so zwingend wie nie zuvor bewusst geworden, dass diese Werke hatten entstehen müssen, als Spiegel des inneren und äußeren iranischen Wesens. Hätten nicht Ferdowsi, Rumi, Saadi und Hafis sie geschaffen, so hätten es unweigerlich andere getan. Diese Werke mussten entstehen – wie Galaxien, Sonnensysteme, die Erde, wie jedes Leben, das zwangsläufig aus Zellen entsteht.

In meinem Bekannten und Freundeskreis kenne ich kaum jemanden, dem Dichtung gleichgültig wäre oder der unseren großen Dichtern keinen Respekt entgegenbrächte. Seit mir das bewusst ist, frage ich mich, worin unsere innere Verbindung zu diesen Dichtern genau besteht, die in jedem Moment unseres Lebens präsent sind, die wir in den Rang von Mystikern erhoben haben, deren Spuren wir auch in den letzten Winkeln unseres Daseins noch finden. Wie konnten sie sich so tief in uns einnisten und so großen Einfluss auf unsere Weltsicht nehmen? Nicht umsonst staunen europäische Experten über die hohe Wertschätzung, die wir unseren Dichtergrößen entgegenbringen. [… ]

Freedom_4 — © Courtesy of the artist
AX, aus der Serie Freedom, 2021. Acryl und Tinte auf Leinwand, 30 × 40 cm. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

Der geliebte Mann

[Seiten 200-201]

Vom Überbringer des Islams soll überliefert sein: „Wenn ein Mann in einen Mann eindringt, wird Gottes Thron erzittern.“

Dennoch zeugt die große Menge klassischer iranischer Poesie und Prosa davon, dass diese Praxis in unserem Land vor tausend Jahren ihren Anfang nahm. Die Praxis der körperlichen Liebe unter Männern erreichte nach Ansicht mancher Forscher hierzulande ihren Höhepunkt, als in Iran die Türken Mittelasiens auf den Plan traten. Andere sehen ihre Ursprünge in Werken griechischer Philosophen, insbesondere in Platons Symposion, in dem von Homoerotik die Rede ist, und bringen sie in Zusammenhang mit der platonischen Liebe, die später in der iranischen Philosophie, bald auch in der Mystik und der Literatur häufig Thema war. Die Geschichte der Mundschenke reicht noch weiter zurück. Etwa die des Ganymed aus der griechischen Mythologie. Zeus raubt ihn und macht den hübschen Jüngling zum Mundschenken der Götter des Olymp. […]

[Seite 206]

Ja, mir leuchtete bald ein, dass in den Liebesgedichten der großen iranischen Lyriker, an denen zum Glück kein Mangel herrscht, die geliebte Person sich häufig als Mann entpuppt und dass Liebeslyrik allgemein in unterschiedlichen Versformen Ausdruck findet, während für Loblieder insbesondere
auf die homoerotische Liebe meist die Form des Ghasels gewählt wird. Ghasel bedeutet ursprünglich Liebesspiel.

Die Darstellung der gleichgeschlechtlichen Liebe, als über mehrere Jahrhunderte hinweg allgemein verbreitetes Verhalten, dient in der persischen Literatur nicht nur literarischen Zwecken. Sie konfrontiert den Iran mit einer Erkenntnis. Die Dichter konnten sich nicht einfach in den Dienst einer Sache wie allgemeinen Anstands stellen, den es damals vermutlich gar nicht gab. Sie sahen den Menschen so, wie er war, nicht so, wie er sein soll. Und wahrscheinlich liegt Saadis außergewöhnliche Beliebtheit genau darin begründet. Voltaire war überzeugt, ein ganzes Volk kann in emotionalen Dingen oder in Bezug auf das, was ihm guttut, nicht irren. […]

[Seiten 208-210]

Die Hinweise auf Homosexualität in der klassischen persischen Literatur blieben deshalb so gut wie unentdeckt, weil im Persischen für die dritte Person nur ein Pronomen verwendet wird. Spuren, die das Geschlecht der geliebten Person verraten, finden sich dennoch. In Anspielungen auf das männliche Glied beispielsweise, oder wenn unmissverständlich von Bartflaum die Rede ist, vom geschwungenen Brauenbogen oder von Wimpernpfeilen – eindeutige Attribute für Kriegslust und Wagemut, aus denen hervorgeht, dass es sich bei der angebeteten Person um einen jungen Mann handelt. In der historischen Epoche, die die Dichter besingen, waren Frauen praktisch nirgendwo in der Öffentlichkeit präsent. Jungen und junge Männer hingegen waren fast allgegenwärtig und
standen im Mittelpunkt des Interesses. Erst wenige Jahrzehnte vor Beginn der Moderne besangen Dichter auch die Schönheit unter dem Schleier der Frauen, die sich in ihrer Bewegungsfreiheit durch Häusermauern und ¬wände eingeschränkt, aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen, vollständig der Führerschaft und Vermittlerfunktion der Männer unterworfen sahen. Die Männer waren sich in der für sie frei verfügbaren Arena selbst genug, wurden buchstäblich zu Selbstversorgern und befriedigten auch ihre physischen Bedürfnisse innerhalb dieses Rahmens. Saadi beschreibt das in
einer seiner Geschichten so:

Zwei, einander einig ins Auge sehend,
Mag ein jeder gern, kann auch ich gestehen.
Ein Freund im Laden, an warmen Quellen und drauß’,
Seit an Seit im Freien, aufeinander zu Haus.
Erst einer dem andern nabeltief hinten rein.
Dann darf der andre hinten, der eine vorn sein.

Klar und deutlich, schwarz auf weiß. Alle lieben den gleichgeschlechtlichen Geliebten, und auch Saadi liebt ihn, weil beide, in der Werkstatt, im Hamam, in der Wüste, auf der Straße oder zu Hause, zusammen, innerhalb der vier Wände auch aufeinander sein und einander wechselseitig begatten
können.

Nicht nur bei Saadi, auch in mindestens der Hälfte aller Verse des Hafis gibt sich an Begriffen wie Sohn, bartlos, Bartflaum der männliche Geliebte unmissverständlich zu erkennen. Tatsächlich lässt sich nur bei einem geringen Teil der klassischen persischen Lyrik definitiv sagen, die geliebte Person ist eine Frau. In diesem Sinn entspricht die Jagd nach jungen Männern der Aktivität des Schürzenjägers und gilt als männliche Eigenschaft, die oft auf männliche Geliebte zielt. Manch einer dieser Männer brachte es zu einigem Ruhm und machte, ähnlich wie berühmte Kurtisanen im Westen, Geschichte. […]

[Seiten 219-221]

Zur Beschreibung der Liebe unter Männern beginnt die Liebeslyrik des Susani Samarghandi mit sanfter Erotik und wird, ungewöhnlich für seine Zeit, zunehmend unverblümter. Europäische Romane des achtzehnten Jahrhunderts werden meist durch ein Vorwort eingeleitet, aus dem hervorgeht, wie
der Erzähler in den Besitz von Dokumenten, Schriften, Memoiren gelangt ist. Durch die Stimme des Erzählers war auch der Hinweis auf den Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit gewährleistet. Susani aber gibt in keinem seiner Verse solche Hinweise und nimmt dem Publikum die Möglichkeit, etwaige Hinzudichtungen anders auszulegen, als er sie verstanden wissen will. Diese Lyrik beeindruckte die iranische Leserschaft, denn die Verse standen in einem kulturellen Zusammenhang, erwuchsen aus einem Kontext, der ihnen Glaubwürdigkeit verlieh, und wurden, indem Individuen auf sie reagierten, zu Allgemeingut. Susani sagt in einem seiner Gedichte über das Gesäß des Geliebten:

Zweigeteilt hab ich, aus Rohsilber, einen Berg gesehen.
Die Berghälften, die ich sah, waren ein Silberarsch.
Aus rohem Silber ein ganzer Berg, dass man vermeint,
Ein Schwerthieb habe den Berg entzweigeteilt.
Etwa so weich und so weiß wie Jasminblüten aufgetürmt.
So makellos und so rein muss eine echte Perle sein.

Da eine so dezente Beschreibung dem Dichter offenbar nicht genügt, geht er einen Schritt weiter, treibt die Lobeshymne für des Geliebten Lenden unverhohlen erotisch auf einen Höhepunkt zu und gelangt gar zu dem Schluss, den Genitalien eines geliebten Mannes gebühre ein erheblich höherer Rang als denen einer Frau:

Aus Rohsilber hat dieser Sohn einen Arsch,
Kein bessrer auf der Welt als sein Arsch.
Färbst glutrot wie im Schmiedefeuer mein Gesicht.
Wertvoll wie Rohsilber, dieser Arsch.
So rund und so prall und so schön eng,
Sucht seinesgleichen auf der Welt, dieser Arsch.
Für deinen Silberarsch geb ich mein Geld,
Denn dein Arsch ist mir einen Goldschatz wert.
Schätzt die Vulva nicht höher als Perlen und Gold,
Wer Pracht und Juwelenglanz eines Arschs genießt,
Monat für Monat Blut aus der Vulva fließt.
Blutet sie, bietet Zuflucht der werte Arsch.
Wo die Vulva erschöpft, bringt Leben der Arsch.
Wie Gift ist die Vulva, honigsüß, Nektar der Arsch.
Groß bist du, stolz und weithin bekannt,
Weil dein Schwanz seinen Sitz hat in einem Arsch.

Gab es in anderen Ländern ähnliche literarische Traditionen des Lobgesangs auf homoerotische Liebe im Allgemeinen, auf des Mannes Lenden im Besonderen? In der gesamten westlichen Literatur ist Der Schüler Alkibiades, im Jahr 1652 anonym verfasst – und später dem libertären Priester und Philosophen Antonio Rocco zugeschrieben –, das erste Werk, das den Analverkehr propagierte und als eindeutig pornografisches Werk in der Diskussion stand. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert wurde Homosexualität in den meisten europäischen Metropolen mit dem Tode bestraft. Gerichtlich verfolgte man noch im Jahr 1950 britische Autorinnen und Autoren, die Homosexualität offen zum Thema machten. Anders in Frankreich. Honoré de Balzac veröffentlichte Sarrasine 1871.

Iranische Lyriker hingegen, die die gleichgeschlechtliche Liebe bereits im zwölften Jahrhundert priesen, wurden nicht nur nicht belangt, sie brüsteten sich auch damit und brachten es, angesichts der weiten Verbreitung homosexueller Praktiken, sogar zu gewissem Ansehen. Susani singt:

Wir haben der Welt den großen Teppich ausgerollt,
Haben der ehrbaren Sklaven Ärsche gespalten.
Da der unglückselige Schwanz daran Freude hat,
Haben wir die Großen zum Arschficken angehalten.
Weil wir der Wahrheit ehrlich ins Auge blickten,
War für uns kein Weg trefflicher als der von hinten.

[…]

[Seiten 223-226]

Man merkt den Versen an, dass deren Schmieden ihr Beruf Spaß gemacht hat und dass iranische Lyriker in dieser Sprache bereits bewandert predigten, lange bevor im Westen der Marquis de Sade das Alphabet der körperlichen Liebe und Erotik auszubuchstabieren suchte. In de Sades Philosophie im Boudoir oder Die lasterhaften Lehrmeister, 1795 verfasst, bevorzugt Dolmancé den Beischlaf mit Männern und vollzieht ihn mit Frauen am liebsten von hinten. De Sade hatte seinen Ruhm zu einem nicht unerheblichen Teil der Tatsache zu verdanken, dass er unverschämt und eindeutig über Sexualität schrieb. Gemessen an Susani aber schneidet er, wie ich finde, schlecht ab. Roland Barthes wusste vermutlich weder um Susani noch um dessen Lyrik. Andernfalls hätte er in seinem berühmten Werk Die Lust am Text zur Unterscheidung zwischen Freude und Lust nicht die Werke des Marquis de Sade als Quell der Freude genannt, sondern die des Susani Samarghandi.

Um den Eindruck zu vermeiden, iranische Dichter muslimischen Glaubens hätten sich unentwegt und ausschließlich dem Thema Liebe gewidmet, sei hier das Verbot im Rahmen des heiligen Monats Ramadan erwähnt, der für Muslime Fasten und Askese bedeutet. Für Lyriker, die die Liebe nicht
nur besangen, hieß das, während der übrigen elf Monate des Jahres bestmöglich vorzusorgen, um den Monat der Abstinenz überstehen zu können. Faroukhi erklärt zu diesem Tatbestand, dass auch der Rest der Stadt dies tue, es jedoch, anders als der verrückte Poet, nicht offen ausspreche:

Hab diesen Monat verbracht mit Fastengebet und Gotteslob,
Ich, Wein, Tanz, Gesang und der Junge, schön wie der Mond.
War ich einen Monat im Jahr hübsch artig und fromm,
Hab ich mich elf Monate lang eher schlecht benommen,
In einer Nacht eines Mondes entgangne Küsse wettgemacht,
Mit Küssen und dem, was Blicken verborgen bleibt,
Was die ganze Stadt will, worüber niemand schreibt
Oder spricht außer mir, dem närrischen Eselstier.

Auch Susani behagen die mit dem Fastenmonat verbundenen Einschränkungen nicht, und er klagt darüber, wie schwer es ihm fällt, sich zu beherrschen, wenn ihn sogar beim Beten die Lust überkommt, sich mit anderen zum Gebet verneigten Männern zu paaren. Er schiebt alle Schuld auf die schwere Last, die sein mannhafter Phallus, riesig wie der eines Esels, ihm aufbürdet:

Meines abgöttisch geliebten Silberglieds Paarungsdrang
Hat mich im strengen Fastenmonat vom Weg abgebracht.
Sklavisch passt ich mich der Scharia Regeln an,
Suchte Freudenmädchens Vulva nicht noch Sklavenarsch,
Enthielt mich, wie zu Ehren des Fastenmonats verlangt.
Abendessen am Morgen und Morgenpaarung des Abends.
So groß war die Lust, die mich überkam, mich zu paaren,
Dass ich beim Beten nicht wusste, ob sitzen, ob stehen,
Wann beim Fastengebet mich verneigen, wann knien,
Meines Schwanzes Drang nachgeben nach des Imamen Arsch,
Im Licht der Kandelaber zählen, der Reihe nach,
Wo und wes prallen Hintern wohl wählen, welch Silbergesäß?
Solch quälende Bürde beschert mir mein schrecklicher Schwanz,
Zunichte wird mich mein Schicksal machen, ganz.
Mein stattlich Gemächt hat mir wohl Rang und Namen verschafft,
Kein Esel, der mir den Rang jemals streitig macht.

Und auch Manutschehri empört sich in einem Gedicht über die religiösen Schranken und sieht vorübergehend vom Geschlechtsverkehr mit Männern ab, weil in dieser Religion ja prinzipiell alles untersagt sei, was Vergnügen bereite. Er schreibt:

Den Sklaven lieb ich und den Kelch mit Wein.
Weder Tadel noch Spott bringt mir zu Ohr.
Verboten sind die ersten beiden, ich weiß.
Solche Freuden öffnen dem Rechtsbruch das Tor.

Bald fand sich in der persischen Lyrik eine solche Fülle an männlichen Geliebten, dass manche Literaten im männlichen Loblied auf den geliebten Mann ein Charakteristikum der Versform der Kassiden sahen. Und selbst als später das Ghasel die Kassiden ablöste, spielte der Geliebte für Lyriker eine unverändert schillernde Rolle. […]

Der Mord an Mokhtar

[Seiten 251-252]

[…] Wir hatten unser altes Haus kaum geräumt, da machte sich der neue Besitzer schon ans Werk. Nach einer Woche waren alle Fenster- und Türrahmen ausgebaut, auf einen wartenden Pritschenwagen geladen und abtransportiert. Übrig blieb tagelang ein hässliches Gerippe mit dunklen Augenhöhlen, offenen Mäulern, ohne jede Ähnlichkeit mit unserem einstigen Zuhause. An dem Tag, als die Planierraupe kam, um ihm endgültig den Garaus zu machen, war ich zufällig zu Hause und konnte von meiner neuen Wohnung aus beim Abriss zuschauen. Als die vier Wände unseres Gästezimmers in sich
Zusammenfielen und nichts als eine Staubwolke übrig blieb, wurde unsere Donnerstagsrunde, die mein Leben verändert, ihm Wärme und eine neue Bedeutung gegeben hatte, diese kleine, schöne Welt, der ich mein Lebensgefühl verdankte und die uns jahrzehntelang wie ein Schutzmantel vor äußeren Bedrohungen bewahrt hatte, binnen weniger Minuten zunichte.

Ja, ich weiß, so war es schon immer. Vieles, was es einst gab, existiert heute nicht mehr.

Saadatabad,
Im Januar 2018 | 6. Bahman 1396

Aus dem Farsi übersetzt von Jutta Himmelreich.

Amir Hassan Cheheltan, Auszüge aus Der Zirkel der Literaturliebhaber, mohit.art NOTES #4/5 (August/September 2023); veröffentlicht bei www.mohit.art, 28. Juli 2023.