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Akteure und Agenten (Vortrag) Die Anderen und die verwaisten Lücken (Lyrik-Lesung Deutsch/Persisch)

Maryam Palizban

Launch der Plattform mohit.art, 10. Dezember 2021, FreiFläche, Berlin: Vortrag Akteure und Agenten und Lyrik-Lesung Die Anderen und die verwaisten Lücken (Deutsch/Persisch), Maryam Palizban, Theaterwissenschaftlerin, Autorin/Lyrikerin, Schauspielerin und Regisseurin.

Akteure und Agenten

Ich träumte vor ein paar Nächten von meiner eigenen Hinrichtung. Ich stand da, neben Anderen, mit offenen Augen und gefesselten Händen. Ich war bereit und wusste, dass er da ist: mein Tod. Die erste Kugel wurde geschossen und ich bekam sie direkt in mein Gesicht, in meine linke Wange.
Es war kein Schock, wie ich gedacht hatte! Kein Zittern am ganzen Körper! Sondern das leichte Eintreten eines brennenden Gefühls, das sich vergrößerte und alles aufnahm.
Langsam und kalt zerfetzte mein Gesicht und ich fiel mit der Stelle, an der die Kugel mein Gesicht getroffen hatte, auf den Boden.
Ich wusste nicht, was genau mich verraten hatte. Das weiß ich nie. Aber das Erschießungskommando wusste genau, dass ich noch nicht tot war.

Einer aus dem Kommando näherte sich. Ich sah kein Gesicht. Nur seine Stiefel, die langsam, aber entschlossen näher kamen. Er schoss in meine linke Brust. Ich war dann endlich tot und wachte auf.
Ich fühlte immer noch eine Stelle auf meiner Wange, die schmerzte und eine Leere, die mich in Stücke riss. Ich war im Traum einfach kurzzeitig tot und wollte jetzt gern den Grund dafür verstehen. Ich wollte einfach wissen, warum ich zum Tod verurteilt wurde. Entstand dieser Traumzustand wegen der Sorgen um die Freunde und Kollegen, die im Iran verhaftet wurden und wegen meiner immer wieder aufsteigenden Fassungslosigkeit, über die Verhaftungsgründe oder vielmehr was als GRUND angegeben wurde? Ist das immer wieder dieselbe Angst vor einer unberechenbaren Macht? Ist das ein Teil meiner immer wieder aufgefrischten Erinnerung an die Massenhinrichtungen der postrevolutionären Ära? Ist es Aufarbeitung von Traumata und Trauer? Oder steht ein anderer Grund hinter diesem Albtraum und was ist der Grund für dieses Todesurteil?

Nein! Das ist kein Vorwort für ein langes Gedicht. Die Lyrik-Lesung findet später statt. Das war ein Versuch, als nicht „Nur-Künstlerin“ und nicht „Nur-Wissenschaftlerin“ ein Thema zwischen diesen entgegensetzen Polen und Fronten zu bewältigen. Das Problem besteht aber genau in diesen zwei Polen, die sich hier auch unter INNEN und AUSSEN definiert haben. Eigentlich sollten dieses „INNEN“ und „AUßEN“ wie ein einziger Leib zusammengehören, aber das ist nicht der Fall…
INNEN: Ost, Außen: West! INNEN: Süd, AUSSEN: Nord! Es bleiben so oft, zu oft, gegensätzliche Pole. Die Kooperationen, die Wiedervereinigungen, alle Wut-geladenen Blicke, die von einer Seite auf die „Anderen“ gerichtet sind. Aber wer sind diese Anderen?

Diese Anderen sind hier, in dem Raum dieses kurzen Textes, es sind die Akteure, die Akteure der Kultur. Die Akteure sind Individuen in einem Kollektiv, die zwischen den Machtstrukturen ihre Rolle zu spielen versuchen. Sie bleiben „Akteure“, solange sie in den Zwischenräumen sind. In dem Moment, in dem ein Akteur sich einer Macht ausliefert, begibt er sich in Gefahr, von einer anderen Seite als AGENT betrachtet zu werden.
Innen – Außen – Zwischen: Diese drei Positionen.
Dieser unerträgliche Drang von Zugehörigkeit! Du gehörst uns! Du gehörst Ihnen! Durch Macht werden Akteure unfreiwillig oder auch aus freiem Willen zu Agenten.
Akteure und Agenten: Diese beiden Figuren sind eins und auch wieder nicht. Sie sind beide kompliziert; verbunden mit Krisen und Krieg.
Und Wir? Wer sind Wir?

Wir stehen zwischen den Stühlen. In einer Reihe. An die Wand gestellt. Mit der Gefahr, immer falsch verstanden zu werden und per Zufall, oder auch nicht, durch eine Kugel gefällt zu werden.

Ist auch alles unsere Schuld! Wir drücken uns nicht klar aus! Aber, ist das der Preis dafür, Akteur bleiben zu wollen und nicht Agent zu werden?
Wie sollte es gehen? Wie können wir sicher sein? Entschlossen und klar?

Das kann ich nicht sagen.
Das werde ich nie wissen, auch wenn ich es versuche…
Ich bin in keinem Erschießungskommando.

Launch mohit.art — © mohit.art
Launch der Plattform mohit.art, 10. Dezember 2021, FreiFläche, Berlin: Maryam Palizban.

Die Anderen und die verwaisten Lücken

1

Vom Berg vor Dir
bis
zum Berg
hinter Dir

Mit langen Schritten
ziehe Deinen Weg
den Langen Gang
von Dunkelheit zum Licht

Dein Kopf die Sonne
eine Stirn von Licht
Weiße Haare
der Himmel

Alle sind still
Stehend in der Reihe
die Zuschauer Deiner Ewigkeit Traum

Stahl in die Wange
Metall in den Rücken der Nase
Was soll ich sagen?
Leblos gefallen auf Deinen Weg
Küsse den Saum Deines Kleids
Verflucht noch mal! Schau hin!
Schau mich an!
Schau!

Und da
lagen Frauen zu Füßen Deiner Statue
Eine Träne floss auf Deinem Gesicht von Gips
Zeichen eines Wunders
Alle sterben
Alle sterben für Dich
Alle sind dumm und blind

Ich verfluche Dich! Schau hin!
In der Geschichte
stehe ich in der zweiten Reihe

Von einer Epoche
Zur anderen
gehöre ich.
Umsonst
wartend auf den ersten Blick
umsonst
wartend auf Dich

Umsonst falle ich von einem Berg
in Meerestiefe
Du bist doch Fisch im anderen Netz
Auf steigst Du vom Meeresgrund
mit allem historischen Müll

Klebst im Bauch Ihrer Netze
Dein toter Körper
ein Diamant im Abfall

Ich bin unser letzter Blick
behalte mich!
Lass mich vor der Hölle
ein Mal Dich ansehen
zwei Mal
drei, vier Mal.
Sattsehen.
Ich weiß, nach diesem Blick
wirst Du blind
Ich weiß
dass deine Augen
in einer Schüssel
in Deinen Händen
serviert werden
Warte ab!
In hundert Jahren
vor einem Kirchenbild
werden sie um Deine Leiden trauern

Das Jahr als wir zusammen kamen
danach
waren die Tage schwarz

Unsere Kinder
mit Ohrfeigen und Fieber
Haltend die Kleider ihrer Mutter
mit den Zähnen
Den Moment Deines Todes
in den Augen

Ich habe Angst
vor der Zerstückelung Deines Körpers
Ich habe Angst
in hundert zerrissenen Jahren
Dich nicht zu finden

Von der Höhe einer Klippe
stoße ich Dich
mit meinen beiden Händen
schlage ich Dich
auf den weißen Marmor
Deiner Brust
Deinen Tod
nur einmal
von einer Hand
von meiner Hand
anzusehen
ist einfacher
als hundert Stiche
das Fetzen
weißer Haut von rotem Fleisch.

In hundert Jahren
bauen Sie eine Stadt
auf der selben Klippe
in Deinem Namen
Ich
eine Verrückte in Deiner Stadt
Hängt diese Stadt von meinem Fleisch
wie Ohrringe
Ich ziehe
ziehe
zieh
bis an das Meer
bis vor Deine Füße
bis ich verschwinden kann unter Deinem Gewand
Stück für Stück
Schritt für Schritt
Jahr für Jahr

Ziehe Deine Stadt
bis mich einschließt
eine Stadt
die Deinen Namen trägt.

2

Dein Körper
der mich tötet
Mein Körper
der Dich zieht
ohne ein Dazwischen
ohne mich

Ich bin nur einer salzige Träne
von einem Auge
das mir nicht gehört

bin nur ein bitterer Schrei
aus einer Kehle
die nicht meine ist

Dein Körper
ist feind
mit mir
mit Dir
der nicht zulässt ohne
ohne Vermittler
zu schlucken
ohne Zähne
ohne Hals

Ein Körper
für einen Körper
für Dich

Ich
für diesen Körper
für Dich

Es ist sehr einfach mit dem Körper zu spielen
um zu töten
und Du verlierst
dieses
„Du ohne mich“
Ich ohne Dich
Du ohne diesen Körper

Wenn bloß der Schnabel des Todes
Das Fliegen des Zeitvogels
ohne mich
ohne Dich
weg gehen könnte
Wenn bloß unsere Körper
ohne uns
aufgeben könnten.

3

Leichtsinnig schreiben
braucht weiße und dicke Hände
und die weißen und dicken Hände
ein Hemd
oder einen Handschuh
ohne Zerrissenheit
ohne Wunde

Und der Wahnsinn ist die geheime Nummer eines Koffers
der den Rücken des Mädchens verkrümmt

Und Du
hebst
deine Hand
haust
hart auf meinen Rücken
und sagst mit Liebe
„Sitz gerade!“
und dein Handabdruck
bleibt für immer
auf meinem Rücken.

1 Aus Maryam Palizban, حذفیات یتیم [Verwaiste Lücken] (Teheran: Payan Verlag, 2019). Grafik von Farhad Fozouni.

2 Ebd.

3 Aus Maryam Palizban, خواب‌های من هر روز صبح با دیدن تو تعبیر می‌شوند [Die Deutung meiner Träume wäre wenn jeden Morgen du vor meine Augen trittst] (Teheran: Bon Gah, 2013). Grafik von Homa Delvaray.