Transnationale Initiativen für Austausch, Übersetzung und Vernetzung
Vor fünf Jahren eröffnete das Goethe-Institut die Vila Sul (Villa Süd) in Salvador-Bahia, einer am Atlantik gelegenen Stadt im nördlichen Brasilien mit afrobrasilianischer Prägung. Das Konzept dieses Residenzprogramms geht über die bisherige Ausrichtung der Programmarbeit deutlich hinaus. In einer sich immer stärker globalisierenden Welt seien kulturelle Vernetzungen eines der wichtigsten Instrumente und „Residenzen ein besonders wirksames Format für nachhaltige Begegnung und kreative (Ko)Produktion,“ ist auf der Homepage der Villa zu lesen. Soweit entspricht diese Einrichtung der jüngeren Entwicklung auswärtiger Kulturpolitik,1 die sich schon seit langem nicht mehr primär darauf konzentriert, (neben der Vermittlung der deutschen Sprache) ein „ausgewogenes Deutschlandbild“ zu vermitteln, worunter noch 1982 „ein Bild vom geistigen und künstlerischen Schaffen unseres Landes in Vergangenheit und Gegenwart“ verstanden wurde.2 Seither geht es immer stärker um die Vernetzung und Kooperation von Künstlern, Kulturschaffenden und zivilgesellschaftlichen Initiativen aus Deutschland und den jeweiligen Partnerländern. Doch auch darüber weist das Programm der Vila Sul hinaus, wenn es weiter heißt, dass es neuer Ansätze bedürfe, „die es vermögen, vielfältig zu agieren und multipel zu wirken. Denn das bloß Bilaterale, das Hin und Her, ist in dieser Welt, die nach einer neuen Ordnung sucht, nicht mehr ausreichend.“3 Entsprechend ist das Programm thematisch ausgerichtet, und zwar auf die Probleme und Perspektiven des globalen Südens. Eine vergleichbare Initiative ist die 2013 begründete Onlineplattform Music in Africa zur Kommunikation der afrikanischen Musikerszene untereinander, mit deren Hilfe die verschiedenen Musiker und Gruppen mit ihren vielfältigen Stile und ihren durchaus sehr heterogenen musikalischen Traditionen sich vernetzen; inzwischen wird die Plattform von einer panafrikanischen Foundation gemanagt.4 Im Falle der Vila Sul kommen die bisher über 100 Residenten, die sich jeweils für einige Monate dort aufhalten, aus den verschiedensten Ländern der Welt, viele aus unterschiedlichen Regionen Brasiliens und nur ein kleinerer Teil aus Deutschland.
Damit unterscheidet sich die Vila Sul deutlich von der nur fünf Jahre zuvor gegründeten Künstlervilla des Goethe-Instituts, der Villa Kamogava in Kyoto (Japan), die „Künstlern und Kulturschaffenden aus Deutschland die Möglichkeit [bietet], im Rahmen eines dreimonatigen Stipendiums in Japan zu leben und zu arbeiten.“5 Ihr Konzept ähnelt damit einem der ältesten und ehrwürdigsten deutschen Residenzprogramme im Ausland, der 1957 etablierten Deutschen Akademie Rom Villa Massimo, die auf das 1913 vom jüdischen Mäzen Eduard Arnold gegründete Künstlerhaus zurückgeht und heute der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien untersteht. Die Förderung der Künstler, denen ihr bis zu zehnmonatiger Rom-Aufenthalt „Inspiration und künstlerische Orientierung ohne finanzielle Engpässe ermöglichen“ soll6, ist auch kein Stipendium, sondern der prestigeträchtige Rom-Preis. Wird die konventionelle Ausrichtung dieses Programms z.B. an der Vergabe dieses Preises nach Sparten deutlich – Bildende Kunst, Architektur, Literatur und Musik (Komposition) –, so sind doch auch solch traditionelle Einrichtungen heute bemüht, Austausch und Dialog mit dem Kunst- und Kulturbetrieb vor Ort zu praktizieren und gemeinsame Projekte, Veranstaltungen und Ausstellungen zu realisieren.
Der Abstand zwischen der Vila Sul und Einrichtungen, die auf die Gründerjahre der Bundesrepublik zurückgehen, ist symptomatisch für den radikalen Wandel im Verständnis auswärtiger Kulturpolitik. Denn die einzelnen, auf dem Globus verstreuten auswärtigen Institute, Programme und Initiativen Deutschlands tragen mit ihren je unterschiedlichen kulturpolitischen Profilen die Signatur der Zeit, in der sie entstanden. Ging es nach 1945 zuvörderst darum, das Ansehen Deutschlands in der Welt wiederherzustellen, antworten jüngere Vorhaben auf die dramatischen geopolitischen Verschiebungen und Verwerfungen in einer globalisierten Welt – mit ihrer wachsenden Kluft zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern (international wie auch im Innern), mit der Klimakatastrophe, den auf Dauer gestellten Krisen, Bürgerkriegen und militärischen Auseinandersetzungen, mit rasant zunehmenden Migrationsbewegungen weltweit, den neuen Autokratien, der Schattensouveränität transnationaler Konzerne und dem politischen Kontrollverlust über die Finanzmärkte. Im Zentrum des kulturpolitischen Engagements stehen jetzt multilaterale Initiativen zur transnationalen Vernetzung von Akteuren, Ideen und Fragen, deren Potential gerade darin gründet, dass sie unterhalb und jenseits der Instrumente internationaler Diplomatie arbeiten. Diese Umorientierung folgt einer Einsicht, wie sie beispielsweise Martin Kobler über seine Zeit als Leiter im Büro von Außenminister Joschka Fischer im Rückblick7 formuliert, wenn er die damalige Konzentration auf sicherheitspolitische Fragen, hinter denen die Kultur zurücktrat, als Fehler bewertet. „‘Kosovo, Iran, 9/11, Afghanistan, Irakkrieg: Darauf haben wir uns damals konzentriert‘, so Kobler. Erst im Rückblick sei ihm klar geworden, welche Rolle Kultur hätte spielen können: ‚Gerade in schwierigen Zeiten muss man die kommunizierenden Röhren offenhalten; je schwieriger die politische Lage, desto höher muss der Kulturetat sein!‘“8
Dieser Einsicht in das Potential der Kultur auch und gerade in schwierigen, spannungsgeladenen Konstellationen möchte ich eine konkrete Beobachtung hinzufügen. In einer Situation, in der die aus den Jugoslawienkriegen hervorgegangenen ethnisch bereinigten Staaten ihre Konflikte und Feindschaften nach Kriegsende in Gestalt einer forciert nationalistischen Rhetorik fortführen, fand 2019 in Belgrad eine Summerschool zum Thema „Public History, Contested Pasts and Politics of Mourning“ statt, an der junge Wissenschaftler aus Serbien, Bosnien und Herzegowina, Polen, Belgien, Österreich und Deutschland teilnahmen. In ihren kritischen Fallstudien zur Gedenkpolitik verschiedener Balkanländer, in denen strukturell ähnliche Muster erkennbar wurden – nationale Mythen, durch Pathosformeln und Märtyrererzählungen gestützt – wurden weniger nationale Differenzen als vielmehr Gemeinsamkeiten erkennbar. Solche Momente der Verständigung über die Gräben der Politik hinweg, sind nicht zu unterschätzen, zumal sie mit ihren Akteuren der jüngeren Generation einen Index auf die Zukunft mit sich führen.
So ist es auch kein Zufall, dass die Initiatorin der Vila Sul eine erfahrene und überzeugte Kosmopolitin ist. In New Delhi (Indien) und Bangkok (Thailand) aufgewachsen, hat die geborene Deutsche Katharina von Ruckteschell-Kate u.a. Goethe-Institute in Johannesburg und Sao Paulo geleitet und jetzt in London, wobei sie zusätzlich jeweils die Verantwortung für die entsprechende Region, d.h. für Subsahara-Afrika, Südamerika bzw. Nordwesteuropa, inne hatte bzw. hat. Aus diesen Erfahrungen erwuchs ihre Überzeugung, es ginge nicht mehr nur darum, bilaterale Freundschaften zu schließen, sondern „mit der Welt gemeinsam Themen und Herausforderungen anzugehen. So haben wir den Multilateralismus begründet, den wir jetzt perfektionieren. Wir bieten vermehrt Plattformen an, zu denen wir internationale Gruppierungen einladen, auf denen wir uns mit globalen Themen beschäftigen. Heute geht es in den Kulturbeziehungen darum, gemeinsam zu lernen und gemeinsam zu produzieren.“ Vor diesem Hintergrund sieht sie für Europa offensichtlich einen erheblichen Nachholbedarf, wenn sie feststellt, dass es um Europa katastrophal bestellt sei, was Rassismus und koloniales Denken angeht: „Die Migrationsbewegungen seit 2015 haben das nochmal verstärkt, diese ablehnende Haltung gegenüber allem, was fremd ist und fremd aussieht. Wenn man dann wie ich aus dem globalen Süden kommt, ist man geschockt, muss ich sagen. Rassismus gibt es überall, auch in Brasilien und Südafrika, aber ich fand es schon heftig hier. Insofern gibt es auch hier viel zu tun auf diesem Feld.“9
Eine solche Umkehr des Blicks – aus der Fremde auf Europa und Deutschland –erfordert, internationales kulturelles Engagement nicht als Einweg-Vorhaben zu begreifen, wie es etwa mit Konzepten auswärtiger Kulturpolitik als „Wettbewerb der Narrative“ oder „Soft Power“ geschieht, die auf die Vermittlung „unserer Werte“ an und deren Stärkung in anderen Ländern zielen. Ein echter kultureller Austausch schließt vielmehr unsere eigenen Lernprozesse ein, die Konfrontation mit den blinden Flecken unserer kulturellen Weltkarte, mit der Ignoranz gegenüber anderen Denk-, Lebens- und Produktionsweisen und die Auseinandersetzung mit den Schattenseiten der europäischen Geschichte, mit dem Kolonialismus und dem tief im europäischen Unbewußten verankerten Überlegenheitsgefühl. Nur durch eine wirkliche Wechselseitigkeit kann künstlerischer und kultureller Austausch zum Erlernen kultureller Mehrsprachigkeit beitragen, deren ein Leben in der globalisierten Welt dringend bedarf.
In der Ära der Globalisierung mit ihren dramatischen Verschiebungen der wirtschafts- und geopolitischen Kräfteverhältnisse ist es ohnehin angesagt, Kulturpolitik noch einmal von Grund auf neu zu denken. Debatten über eine notwendige Umorientierung oder Neuausrichtung der internationalen kulturellen Beziehungen begleiten deren Praxis allerdings von Anbeginn. Das muss kein schlechtes Zeichen sein, denn deren Ziele und Erwartungen, aber auch deren Schwierigkeiten und Grenzen bedürfen einer permanenten Reflektion angesichts sich verändernder Herausforderungen und Voraussetzungen in den Partnerländern oder akuter Krisen und Notlagen vor Ort. Aber die Tatsache, dass in den betreffenden Diskussionen und Veröffentlichungen die immer gleichen Streitfragen in regelmäßigen Abständen wiederkehren, zeugt eher davon, dass nicht geringe Teile der Debatte in vielerlei Hinsicht hinter den veränderten Voraussetzungen und auch hinter der Praxis zurückbleiben.
Dieses Bild ergibt sich zumindest bei der Durchsicht der Beiträge aus den vergangenen zwei Jahrzehnten, die in mehreren Publikationen jüngst zusammengefasst wurden. So bemüht beispielsweise der 2018 von Olaf Zimmermann herausgegebene umfangreiche Band mit Beiträgen aus der Zeitschrift Politik und Kultur in seinem Titel noch einmal das Schlagwort der Dritten Säule10, mit dem die auswärtige Kulturpolitik neben die als klassisch bezeichneten Felder von Diplomatie und auswärtiger Wirtschaftspolitik gestellt wird. Auf diese Weise wird aber gerade eines ihrer fundamentalen Probleme verdeckt: dass sich das kulturelle Engagement Deutschlands nämlich in einem strukturellen Dilemma bewegt zwischen den internationalen Wettbewerbsinteressen Deutschlands und der Verpflichtung der Außenpolitik auf die verantwortliche Mitgestaltung globaler Transformationsprozesse, auf Menschenrechte und z.B. auf die UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung kultureller Vielfalt. Zudem stehen sich in der dokumentierten Debatte unterschiedlichste Zielsetzungen z.T. konträr gegenüber, so etwa das Verständnis von Kultur als Instrument zur „Förderung eines positiven Deutschlandbildes im Ausland“11 oder zur Krisenbewältigung, die Kultur als Joker im „Wettbewerb der Narrative“, oder eben Kulturpolitik als interkultureller Austausch und internationale Gesellschaftspolitik, die kultur- bzw. bildungspolitische Initiativen aus Deutschland mit Akteuren der Partnerländer vernetzt. Nebenschauplätze dieser Debatte sind die Kontroverse über einen ‚erweiterten Kulturbegriff‘, die Bedenken gegenüber einer Instrumentalisierung oder einer Überforderung der auswärtigen Bildungs- und Kulturpolitik und die Sorge, dass die Ausweitung des kulturpolitischen Engagements auf Kosten des künstlerischen Niveaus der geförderten Vorhaben gehen könne.
Die Praxis von künstlerischem Austausch und kultureller Vernetzung muss aber schon deshalb von einem offenen Kulturbegriff ausgehen, weil ‚Kultur‘ in unterschiedlichen Regionen, Sprachen, ethnischen oder religionsspezifischen Gruppierungen durchaus Verschiedenes bedeutet und in sehr verschiedener Form zum Ausdruck kommt. Ein erweiterter Kulturbegriff meint zudem auch mehr und anderes als „eine additive Hinzufügung von Bildung, Religion und Wissenschaft zur Kunst“, wie ein Beitrag in dem genannten Band ihn (miss)versteht.12 Dagegen ist aber ein enger Kulturbegriff, der Kulturpolitik mit Kunstförderung gleichsetzt, das Produkt einer spezifisch europäischen Geschichte; in ihr werden die geschichtlich entstandenen Einrichtungen wie Theater, Museen etc., in denen Kunst produziert, gelehrt und präsentiert wird, zusammenfassend als Kulturbetrieb bezeichnet. Und kulturpolitische Ambitionen, die über die Vermittlung von Sprache, künstlerischen und literarischen Werken aus Deutschland hinausgehen, gehen keineswegs auf Kosten der Qualität, wenn sie die “kulturpolitische und zivilgesellschaftliche Kraft der Künste“ nutzen,“ so Klaus-Dieter Lehmann.13 Dagegen werden Künste und Künstler, die ins Ausland geschickt werden, um ein angemessenes Deutschlandbild zu vermitteln (wie im traditionellen Konzept auswärtiger Kulturpolitik), auf ihre Rolle als Repräsentanten einer nationalen Kultur reduziert, genauso wie Künstlern anderer Länder und Kulturen, wenn deren Arbeiten sie z.B. „als arabische, muslimische Kunst“ vorgestellt oder als Ausdruck „arabisch-islamischer Identität“ gedeutet werden, anstatt sie als individuelle, genuine Aussagen wahrzunehmen. Der Hinweis auf diese Falle im interkulturellen Austausch von Hans-Georg Knopp basiert auf langjährigen Erfahrungen als Geschäftsführer des Goethe-Instituts und nachmaliger Intendant im Haus der Kulturen der Welt. Exemplarisch seien, so Knopp, „Erfahrungen mit Künstlern aus dem Nahen Osten. Ein Grundthema für sie ist, dass sie in der westlichen Öffentlichkeit nicht als Künstler, sondern als arabische Künstler oder als islamische Künstler wahrgenommen werden. Das wäre so, als würde man die wichtigsten Künstler aus Deutschland als christliche Künstler beschreiben.“ Im Blick auf die Kritik der postkolonialen Debatte an fehlender Symmetrie im Kulturaustausch, an der Ethnisierung fremder Künstler und der Fortschreibung kolonialer Praxis im Wissenschafts- und Kunstbetrieb, plädiert Knopp für ein Zurechtrücken des „Dialogbegriffs, der von eurozentrischen und kolonialen Inhalten geprägt“ sei und geht davon aus, dass der „manchmal beliebig gewordene Begriff von Kultur“ nur in der Praxis präzisiert werden könne.14
In der Neuausrichtung des internationalen kulturellen Engagements spielt die regionale Differenzierung eine wichtige Rolle, so z.B. in der Dezentralisierung der Programmverantwortung der Goethe-Institute und deren Verlagerung auf verschiedene ‚Weltregionen‘. Auf diese Weise kann sich die Programmarbeit direkt auf die kulturellen Besonderheiten und Bedürfnisse, die spezifischen Situation, die individuellen Künstler und konkreten Initiativen in den jeweiligen Regionen stützen.15 Anstatt in der Kommunikation zwischen Zentrale (in München) und einzelnen lokalen Instituten kann die Reflexion über die praktische Arbeit nun im gemeinsamen Erfahrungsaustausch der Institute einer Region stattfinden, mit dem zusätzlichen Effekt einer Vernetzung von Akteuren, die in der Region heimisch sind. Dass das gelingen kann, davon konnte ich mich bei einem der regelmäßig stattfindenden Treffen der Institute aus der Region ‚Nordafrika-Naher/Mittlerer Osten‘ überzeugen. Diese Region gehört allerdings zu den weißen, eher dünn bestückten Zonen auf der Karte weltweiter Standorte, im Unterschied zur Dichte europäischer Standorte, und selbst im Vergleich mit Südamerika. Zudem sind einige der nicht so zahlreichen Goethe-Institute dieser Region aufgrund der aktuellen politischen Lage derzeit geschlossen, so diejenigen in Afghanistan und in Syrien; und bei anderen handelt es sich lediglich Büros, die lediglich Sprachvermittlung betreiben, wie etwa im Falle Teherans. Kompensiert wird diese mangelnde Präsenz in der Region durch das Online-Magazin Perspektiven, das vierteljährlich auf Arabisch, Englisch, Französisch und Deutsch erscheint, und die dreisprachige (Deutsch, Englisch, Arabisch) Online-Plattform Quantare.de – Dialog mit der islamischen Welt.
Doch weiße, graue oder blinde Flecken betreffen nicht nur geographische Regionen, in denen das kulturelle Engagement der Bundesrepublik unterentwickelt ist. Es geht auch um blinde Flecken auf der notorisch verzerrten europäischen Landkarte der Weltkulturen, entstellt nicht nur durch ihre Nord-Süd-Ausrichtung, die sich als Nord-Süd-Gefälle darstellt, und durch die verzerrten Proportionen, die der Projektion des dreidimensionalen Globus auf die zweidimensionalen Fläche geschuldet sind. Wobei diese Entstellung auch nicht wettgemacht werden kann durch die diversen „Upside Down Karten“ aller Art, in denen Europa sichtlich an den Rand gedrängt ist – Karten, die angeregt wurden durch die „Mapa Invertido da América do Sul“, die Zeichnung einer auf den Kopf gestülpten Karte Südamerikas, die der Künstler Joaquín Torres-García aus Uruguay 1944 angefertigt hat.
Vielleicht gravierender als solche geographischen Entstellungen sind jene blinden Flecken auf der europäischen Karte der Weltkulturen, die erst durch die stereotypen Bilder fremder Länder mit ihrer scheinbar homogenen Kultur hervorgebracht werden und dabei die immensen Lücken im Wissen um deren kulturelle Vielfalt und künstlerische Produktivität verdecken: die medial kursierenden Bilder der Fremde als Deckbilder des kulturell Fremden. Für diese Art Klischee-Bilder, die unsere interkulturelle Ahnungslosigkeit und Ignoranz kaschieren, ist die gegenwärtige Kunstszene im Iran ein besonders krasses Beispiel. Unter diesen Bedingungen eröffnen die Publikationen der beiden Initiatoren von mohit.art über die Künste im Iran eine terra incognita: eine Welt, die den meisten Europäern vollkommen unbekannt ist, werden mit dem Stichwort iranische Kunst doch zumeist allenfalls die spektakulären Arbeiten von Shirin Neshat assoziiert, die als Kontrastbilder zum Bild eines weitgehend in der Tradition verharrenden Landes wahrgenommen werden. Bei der Durchsicht von Hannah Jacobis Band Stimmen aus Teheran (2017) mit Interviews mit Künstlern, Kuratoren und Kritikern zur zeitgenössischen Kunstszene im Iran wie auch bei der Lektüre von Bernd Fechners Beitrag zur Geschichte der persischen Photographie und der gegenwärtigen iranischen Fotokunst (in dem Themenheft Visual Art in Iran der Zeitschrift Eikon Nr. 108, 2019) reibt man sich die Augen – und entdeckt in der Konzept- und Fotokunst der Gegenwart viele ästhetische Gemeinsamkeiten mit künstlerischen Arbeiten anderswo auf der Welt und zugleich doch auch eine ganz eigene künstlerische Welt.
Die Fragestellung, die Bernd Fechner am Ende seines Beitrags erörtert, trifft dabei ins Zentrum der aktuellen Kontroverse im Zeichen von postkolonialer Kulturkritik und global art: „Galerien, Künstlerinnen und Künstler sehen sich mit einer Erwartungshaltung konfrontiert, die ihnen vorgibt, dass nicht-amerikanische und nicht-europäische Kunst entweder ethnisch oder politisch konnotiert zu sein habe. Wird iranische Kunst international auch ohne Kopftuch-Kritik, persische Kalligrafie oder orientalische Teppichmuster wahrgenommen? Die Obsession des visuell Anderen ist eine postkoloniale Konstruktion. Doch wie funktioniert Kunst als Kritik an globaler Homogenisierung, ohne zugleich folkloristischen Stereotypen zu verfallen?“16 Diese Frage verweist auf eine Aporie in der aktuellen Debatte über kulturelle Aneignung, weil die Kritik an der Aufnahme von symbolischen oder ästhetischen Elementen fremder Kulturen als Kehrseite das Phantasma einer ethnisch homogenen bzw. einer kulturell reinen Kunst hervorbringt. Derart kulturell reine Ausdrucksformen könnte es aber nur in homogenen Gesellschaften geben, die keinerlei Kontakt mit anderen Kulturen praktizieren, denn kultureller Transfer, Bildertausch und Übersetzung gehören seit jeher zum Handel und Austausch zwischen den Ländern und Kontinenten dieser Welt. Doch ist im Zuge postkolonialer Kritik an der anhaltenden Asymmetrie im Kulturaustausch die europäische Kultur zunehmend unter Generalverdacht geraten – und damit auch die ästhetischen Traditionen der europäischen Kunstgeschichte. In der Folge wird der Bezug außereuropäischer Künstler auf „Europäisches“ als Unterwerfung und umgekehrt werden außereuropäische Referenzen im „Westen“ pauschal als Rassismus oder unerlaubte Aneignung gebrandmarkt.
Allerdings spielen sich derartige Debatten weitgehend in einem abstrakten theoretischen Raum ab, während sie durch Einblicke in und die Konfrontation mit künstlerischen Arbeiten anderer Länder rasch auf die Füße gestellt werden können. Im Hamburger Bahnhof. Museum der Gegenwart ist z.Zt. die Ausstellung „Nation, Narration, Narcosis. Collecting Entanglements and Embodied Histories“ zu sehen, in der u.a. Arbeiten aus Sammlungen von Museen in Indonesien, Thailand und Singapur gezeigt werden: Bilder, Installationen, Foto- und Videoarbeiten, in denen sich Künstler aus Südostasien mit den nationalen Erzählungen ihrer Länder und den Auswirkungen der ökonomischen Transformationsprozesse ihrer Gesellschaften auseinandersetzen. Dabei springt ins Auge, dass sich ihre künstlerischen Ausdrucksformen für die sich dabei ereignenden sozio-kulturellen und ökologischen Eruptionen derselben Formate, Medien und Techniken bedienen, wie sie auch von Künstlern in Europa oder den USA genutzt werden. Traditionell gehörte die Verwendung spezifischer Formen und Materialien und der Einsatz bestimmter Techniken zu den spezifischen Charakteristika einzelner Kulturen, von denen allerdings Vieles durch Handel, Reisen, Migrationsbewegungen und den Austausch der Künstler auch anderswo zum Einsatz kam. Demgegenüber hat die Entwicklung von Druck- und Reproduktionstechniken in Neuzeit und Moderne die verbindende Momente in den Künsten verschiedener Länder und Kulturen verstärkt. Und spätestens seit Erfindung der Photographie sind die medialen Techniken und Formate zum Beschleuniger in der Entstehung einer sich globalisierenden Kunstszene geworden. Wenn diese von Künstlern kreativ genutzt werden, um die sie jeweils umtreibenden Fragen und Probleme, Sehnsüchte und Ängste zum Ausdruck zu bringen, ist der individuelle und kulturelle Eigensinn ihrer Arbeiten nicht in Gefahr. Die Möglichkeit, solche künstlerischen Arbeiten aus uns fernen und fremden Regionen zu sehen, birgt die Chance, uns auf dem Weg zur kulturellen Mehrsprachigkeit ein Stück voran zu bringen.
1 Zu Perspektiven auswärtiger Kulturpolitik in der Ära der Globalisierung vgl. Sigrid Weigel, Mitarbeit Zaal Andronikashvili und Christian Schön, Transnationale auswärtige Kulturpolitik – Jenseits der Nationalkultur. Voraussetzungen und Perspektiven der Verschränkung von Innen und Außen (Stuttgart: ifa-Edition Kultur und Außenpolitik, 2019).
2 Auswärtiges Amt, Hg., Zehn Thesen zur kulturellen Begegnung und Zusammenarbeit mit Ländern der Dritten Welt (Bonn: Deutscher Kulturrat, März 1982), 14.
4 https://www.musicinafrica.net.
6 https://www.villamassimo.de.
7 Anschließend war er Leiter der Kulturabteilung im Auswärtigen Amt und danach in verschiedenen diplomatischen Funktionen und für die UN in Krisengebieten tätig.
8 Martin Kobler, zitiert in Carola Lentz und Marie-Christine Gabriel, Das Goethe-Institut. Eine Geschichte von 1951 bis heute (Stuttgart: Klett Cotta 2021), 178.
9 Katharina von Ruckteschell-Kate, zitiert in Lentz und Gabriel, Das Goethe-Institut, 238 u. 240 f.
10 Hans Zimmermann und Theo Geißler, Hg., Die dritte Säule. Beiträge zur auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik (Berlin: Deutscher Kulturrat, 2018).
11 Monika Grütters, “Brücken zwischen den Menschen. Zur Funktion von Kunst und Kultur (2010)”, in ebd., 55.
12 Max Fuchs, “Deutschlands Bild in der Welt (2006)2, in ebd., 41f.
13 Klaus-Dieter Lehmann, “Es gibt kein getrenntes Innen und Aussen”, in Johannes Ebert und Olaf Zimmermann, Hg., AKBP. Ein Rückblick (Berlin: Deutscher Kulturrat, 2020), 22.
14 Hans-Georg Knopp, “Kunst im interkulturellen Dialog (2007)”, in Zimmermann und Geißler, Hg., Die dritte Säule, 251-254.
15 Klaus-Dieter Lehmann, “Klassiker mit neuen Zielsetzungen”, in Ebert und Zimmermann, Hg., AKBP. Ein Rückblick, 41.
16 Bernd Fechner, “Visual Art in Iran. Versuch einer Orientierung,” in Eikon. Internatioanle Zeitschrift für Photographie und Medienkunst, Nr. 108 (11/2019): 68 ff.